Vom Verschwinden der Rituale
/ Die Welt

Mit Byung-chul Hans Büchern ist es wie mit der filmischen Totalpoesie von Lars von Trier oder mit der Extremliteratur von Michel Houellebecq. Es gibt die glühenden Han-Fans, die auf jedes neue Werk hinfiebern, an Kunsthochschulen in seine Vorlesungen strömen und seine Fähigkeit lieben, auf einprägsame Weise das Bild einer völlig verkorksten Gesellschaft zu zeichnen, in der sich der einzelne zwischen Narzissmus und freiwilliger Selbstausbeutung zerreibt – Schönheit, Poesie und Geheimnis haben darin keinen Platz, weil die „Transparenzgesellschaft“, so einer seiner Buchtitel, alles und jeden pornografisch entblößt und ausschlachtet. Und es gibt die Han-Gegner, die ihn furchtbar finden. Und natürlich ist jemand, der Bücher über „Die Errettung des Schönen“ oder die schreibt und nun „Vom Verschwinden der Rituale“ spricht, sich also nach alten, fast mythischen Werten sehnt, höchstverdächtig.

 

Dass Han aus dem geistigen Biotop von Heidegger bis Sloterdijk kommt und gern in Hauptsätzen formuliert, die keine Fragen offenlassen, trägt seinen Teil dazu bei, ihn entweder als populärwissenschaftlich zu belächeln oder als kulturkonservativ abzutun. Doch das ist purer akademischer Snobismus. Kaum jemand bringt unsere von Konsumzwang, Selbstbeschau und innerer Haltlosigkeit geprägte Epoche so gut auf den Punkt wie der 1959 in Seoul geborene und in Berlin lebende Philosoph.

 

Sein neues Buch heißt "Vom Verschwinden der Rituale“. Han beschreibt darin eine Welt, in der symbolische, stille Verhaltensformen, die einem bestimmten Ding oder Ereignis Bedeutung verleihen, einer grobschlächtigen Authentizitätskultur gewichen sind.

 

Gaben Rituale uns einst einen festen Ort, der uns in der Welt verankerte, sind wir nun in der narzisstischen Tretmühle gefangen. „Rituale lassen sich als symbolische Techniken der Einhausung definieren. Sie verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein.“

 

Diese Stabilisierung sei nun abhandengekommen – in einer Gesellschaft, die den subjektiven Affekt der schönen Form vorzieht, ja sie als oberflächlich abtut, gibt es laut Han kein Verweilen. Zudem werde mit der ständigen Beleuchtung des Selbst das Reich der Zeichen ersetzt „durch das Reich der Seelen, die sich entblößen und sich permanent produzieren“.

 

Besonders interessant ist, dass er mit dem Wegfallen von Ritualen eine Verrohung der Umgangsformen in Verbindung bringt. Rituale tilgen den Fokus auf die eigene Innerlichkeit und vermindern somit das Potenzial von Narzissmus, Depression und Aggression – „denn das Ich versenkt sich ins rituelle Spiel der Zeichen. Die Regelleidenschaft entinnerlicht das Ich.“

 

Dagegen bewirke der Authentizitätskult, der sich moralisierend gegen schöne Umgangsformen sträubt, ein Verschwinden der Höflichkeiten. „Die Moral schließt offenbar die Verrohung der Gesellschaft nicht aus. Man könnte sogar sagen: Je moralisierender eine Gesellschaft ist, desto unhöflicher ist sie. Gegen diese formlose Moral ist eine Ethik der schönen Formen zu verteidigen.“ Es sind diese appellativen Momente, die Hans Denken so gut machen.

 

So bemängelt er auch den Verlust eines behutsamen Umgangs mit den Dingen und Geschichten. Angesichts des ständigen Produktionsdrucks spricht Han von der Ablösung von Gegenständen und Erzählungen durch den „Dataismus“, also die reine Zählung.

 

Dem stehen Ruhe, Einfachheit, Wiederholung und Aufmerksamkeit entgegen, die meditative Wahrnehmungsverschärfung, die ein Ritual – allen voran die Teezeremonie – einfordert. Im Grunde schreibt Han ein Buch über Achtsamkeitspraxis. Wo die ständige Reizüberflutung und Erregung, die Jagd nach Kreativität und Innovation eine „Kommunikation ohne Gemeinschaft“ bewirke, brächten Rituale eine „Gemeinschaft ohne Kommunikation“ hervor, in der sich alle Mitglieder auch ohne Worte verstünden.

 

Mit Ritualen meint Han alles, was durch Symbole und Regeln ein übergeordnetes System schafft, in dem der Mensch sich zu Hause fühlt – von Glaube und Kunst über Verführung und Spiel bis hin zum Kampf. Der Drohnenkrieg als ultimativ abstrakter Tötungsvorgang entspreche dem additiven, schnelllebigen Credo des Kapitalismus, während der Kampf zu früheren Zeiten strengen Spielregeln unterlag.

 

Oder die auf Informationsgehalt oder spontane Gefühlsregungen reduzierte Sprache: Sie lasse keinen Raum mehr für Poesie und Zweideutigkeiten. „Wo der Narzissmus wütet, verschwindet das Spielerische aus der Kultur. Der Zwang der Arbeit und Leistung verschärft die Profanierung des Lebens.“

 

Eines seiner besten Beispiele für die Symbolentleerung in unserer Zeit sind Tattoos: „Sie verweisen nur noch auf die Einzigartigkeit ihres Trägers. Der Körper ist hier weder rituelle Bühne noch Projektionsfläche, sondern eine Werbefläche. Die neoliberale Hölle des Gleichen wird von tätowierten Klonen bewohnt.“ Ein klassischer Han-Satz, provokant und ultimativ, mit einer Prise Misanthropie.

 

Erstaunlich bei diesem Büchlein ist auch die Erkenntnis, wie wenig bisher gesprochen wurde über das Misstrauen gegenüber ritualisierten Interaktionsformen. Dass heute spontane Impulse als authentisch und somit als positiv besetzt gelten, wird zwar mit Sorge gesehen, sobald es um die Auswirkungen in sozialen Netzwerken geht. Doch warum das so ist und welche Verhaltensregeln heute fehlen, die bis vor Kurzem noch galten, wird nicht groß debattiert.

 

Han dagegen stellt unserem System die Diagnose einer brutalen Formfeindlichkeit aus, die Alltag, Politik und Kunst mit einem tödlichen Keim infiziert hat. „Der narzisstische Authentizitätskult macht uns blind gegenüber der symbolischen Kraft der Formen, die einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Gefühle und Gedanken ausübt. Denkbar ist eine rituelle Wende, in der wieder der Vorrang der Formen gilt.“

 

Es ist eine Sehnsucht nach Behutsamkeit, die aus solchen Worten spricht – gegenüber dem Menschen und seiner Umgebung und gegenüber der Schönheit der Welt.